Sarla

Deutsche Sprache, zumindest für mich, war schwer, und am Anfang haben wir nicht gewusst, dass wir eventuell hier bleiben werden. Das heißt, du hast dir nicht viel Mühe gegeben. Wenn man von Anfang an weiß: Nein, du willst hier bleiben und du musst sprechen, dann geht man mit ganz anderem Einsatz ran. Ich habe gedacht: Ich bin hier so fünf Jahre und man wird bisschen Europa gucken, mein Mann wird mit seiner Promotion fertig und dann sind wir wieder zurück.

Das ist das Projekt »DIE NEUEN ZEITZEUGEN«. Hier hören Sie Geschichten von Menschen, die sonst nicht erzählt werden. Die folgenden Aufnahmen sind im Herbst 2017 in Berlin, Charlottenburg-Wilmersdorf entstanden. Die neuen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erzählten, wie sie ihr Weg nach Deutschland geführt hat. Menschen aus der Nachbarschaft hörten ihnen dabei zu.

Das ist die Geschichte von Sarla. Sie ist vor fast fünfzig Jahren aus einer Stadt in Indien geko mmen, die mittlerweile schon nicht mehr zu Indien gehört. Wie vor allem Kinder ihr geholfen haben, in Deutschland anzukommen, erzählt sie nun in ihrer Geschichte.

Ich lebe 48 Jahre in Deutschland, davon 44 Jahre hier in Berlin. Geboren bin ich in Indien, aber in Karachi. Karachi ist jetzt nicht mehr Indien, das ist Teil von Pakistan, und ich bin geboren in dieser Zeit, als Indien noch eine britische Kolonie war. In '47 Indien war geteilt in East Pakistan, West Pakistan und Indien. Wir waren in Karachi, und das heißt West Pakistan, und mein Vater hat entschieden, dass wir weggehen werden von hier, und er hat von Mumbai erzählt. Das heißt, als ich Karachi verlassen habe, war ich noch nicht sieben. Das heißt, meine Schwester war zweieinhalb Jahre älter und so.

Wir hatten dort eine englischsprachige Schule, und dort waren wir, die drei Mädchen. Mein Bruder, er ging etwas weiter weg in eine muttersprachliche Schule und so weiter. Diese Schule war nur Grundschule, und weil wir kein Englisch sprechen konnten, haben die uns alle drei in eine Klasse gesteckt. Dann gingen wir weiter und man hat auch Glück gehabt und dort habe ich mein Abi fertiggemacht. Und dann ging ich auch ins College, habe ein Studium angefangen. Bachelor hab' ich fertiggemacht, und dann weiter.

Nach dem Bachelor wollte meine Mutter eigentlich, dass ich nicht weiter studieren soll, aber ich wollte unbedingt weiter. Mein Vater war sehr unterstützend und hat gesagt: Nein, du kannst studieren, so lang du willst, weil er hat geglaubt, dass eine Ausbildung der beste Weg für jemanden ist. Später, wenn man es braucht, kann man immer auf eigenen Beinen stehen. Okay, ich war fertig mit dem Master '63 und dann habe ich Sozialarbeit gelernt. Ich wollt' anfangen zu arbeiten. Da war meine Mutter wieder dagegen und mein Vater hat wieder gesagt: Nein, nein, du kannst arbeiten. Ich habe ungefähr sechs Jahre gearbeitet, bevor ich meinen Mann geheiratet habe. In Indien haben wir arrangierte Ehe.

Er hat hier studiert, er kam hier Ende '60, und nach seinem Diplom kam er nach Hause, wir haben geheiratet und sind nach Deutschland. Sein Professor war nett und hat gesagt: In Hannover da gibt es ein Forschungsinstitut und da wird eine volle Stelle sein und deswegen kam ich von Mumbai nach Hannover erst.

Ich war vegetarisch und damals, so ungefähr 50 Jahre vorher, gab es kaum Sachen hier, die du essen konntest. Mein Mann hat zu mir gesagt: Wenn du nicht etwas isst, dann wirst du hier sterben, das will ich nicht. Und man fängt an zu essen, aber – ich habe gedacht, als ich das erste Mal Fleisch gegessen habe, ich kaue auf Leder, ja. Und wir haben zu Hause nicht nur Fleisch nicht gegessen, wir haben kein Fisch gegessen, keine Eier gegessen, gar nix, das war nur vegetarisch.

Was mir hier sehr, sehr schwer am Anfang gefallen ist: Man hat die Familie sehr viel vermisst. Wetter war hier saukalt. Wenn du keinen Mut hast und du in deinen eigenen vier Wänden bleibst, dann weißt du auch nicht, was draußen los is'. Du musst dir Mühe geben, rauszugehen, Kontakte zu knüpfen.

Wenn deine Sprache besser wird, kannst du alles viel besser, auch Fernsehprogramme, Radio. Was wird gesprochen, wenn die Leute, die Deutschen, zu dir nach Hause kommen. Aber ohne Sprache, ist es sehr schwierig. Mein Mann, bevor ich kam, hatte mich schon für einen Deutschkurs für Ausländer angemeldet. Ich habe sofort angefangen mit dem Deutschkurs, aber das war nur so einmal in der Woche und das war nicht viel. Und auch wenn du Deutsch lernst, aber es keine Möglichkeit gibt, das zu üben, dann kommst du nicht weiter. Wir gingen nochmal ins Arbeitsamt um eine Arbeitserlaubnis bitten, aber das ging nicht. Die haben gesagt: Haben Sie einen Job? Und wenn man in irgendeinem Job war, haben die gesagt: Haben Sie eine Arbeitserlaubnis? Das war ein Teufelskreis.

Der Kollege meines Mannes hat gesagt, dass in seiner Gemeinde, da is' eine Stelle frei als Kindergärtnerin und er hat mit dem Pfarrer gesprochen. Und der Pfarrer wollte mich erstmal testen, ob ich fähig genug bin, diesen Job zu machen. Er hat Religionsunterricht in der Schule gegeben. Ich habe gesagt: Gerne, das mache ich, aber ich kann nur Englisch, ich kann Deutsch nicht so. Wir sind beide zusammen in diesen Unterricht. Er hat mir den Job gegeben und hat gesagt: Sie können es noch nicht, aber sie werden schnell lernen. Und ich habe so sechs, acht Wochen mit einer anderen Mitarbeiterin zusammengearbeitet, wie es überhaupt hier läuft im Kindergarten. Dann habe ich eine eigene ständige Gruppe bekommen und das ging weiter. Ich habe viel mehr erfahren, weil Kinder sprechen viel darüber, was sie machen.

Mein Mann hat eine Stelle in Berlin bekommen. Ich war mit meinem kleinen Kind, ich habe aufgehört zu arbeiten. Ja, er hatte seine Doktorarbeit schon fertig und er wollte so ein bisschen Erfahrung haben, bevor wir nach Indien zurückgehen. Weil die haben uns gesagt: Deutschland ist ein Einwanderungsland. Alle Studenten, die hierher gekommen sind, wenn die fertig mit ihrem Studium sind oder vielleicht bisschen Erfahrung haben, dann gehen sie aber wieder zurück. Das heißt, du hast überhaupt keine Stabilität hier.

Wir haben so viele Sachen auch nicht gewusst als Familie. Als die Kinder kamen, man bekommt – so hab' ich später erfahren – von seiner Krankenkasse Begrüßungsgeld. Aber du musst einen Antrag stellen. Woher sollen wir das wissen?! Die Deutsche wissen alle schon Bescheid, und die denken nicht, dass wir das nicht wissen, ja.

Irgendwann war es soweit, dass die gesagt haben, es ist möglich, die deutsche Staatsangehörigkeit zu bekommen. Wir haben 1978 die deutsche Staatsangehörigkeit bekommen. Wissen Sie, mein Mann hatte eine Stelle als Beamter und er kann nur Beamter sein, wenn er Deutscher ist. Ich war sehr gemischter Meinung und ich habe gedacht: Du kannst deutsch werden, ich bleibe Inderin. Weil als ich aus Mumbai hierher kam, hab ich nicht sehr viel von der deutschen Geschichte gewusst. Aber nach und nach, wenn du hier bleibst, lernt man viel und ich hab' gedacht, dass wenn irgendwas passiert hier, so etwas wie früher, welche Antworten kann ich meinen Kinder geben? Meine Kinder sollen mir niemals sagen: Mama, warum hast du für uns falsch entschieden?!

Das ist eine große Verantwortung, aber die deutschen Behörden haben gesagt, dass wenn jemand alleine deutsch wird und wenn die Familie da ist, werden alle deutsch. Dann ist es leichter, sich zu integrieren in die Gesellschaft. Dann haben wir die Kinder in eine deutsche Schule gesteckt. Wenn wir hierbleiben, das ist besser, dass die in eine deutsche Schule gehen.

Ich denke, wenn man jung is', man is' voll von Träumen, man will eine Ehe, du willst auch eine gute Mutter sein und als die Kinder da waren, war alles viel leichter. Du bekommst Kontakt in der Schule durch die Kinder – die Kinder kommen zu uns, unsere Kinder gehen zu denen. Und jetzt, wo die Kinder erwachsen sind, habe ich diese Frage doch gestellt: Wie fühlt ihr Kinder euch? Und die haben die Antwort gegeben: Wir fühlen uns als Deutsche, unsere Wurzeln sind in Indien, aber wir fühlen uns als Deutsche. Und ich denke, das gibt mir ein sehr gutes Gefühl, dass das so ist.

Ich habe irgendwann, als mein Sohn fertig war mit der Grundschule, hab' ich auch wieder angefangen zu arbeiten. Ich habe bei den amerikanischen Streitkräften eine Stelle als Sozialarbeiterin bekommen Anfang 1989. Und man hat gearbeitet fünf, sechs Jahre und dann fiel die Mauer, eigentlich gegen Ende '89, aber die amerikanischen Streitkräfte blieben hier bis '94. Und dann war ich wieder arbeitslos und keiner würd' mich nehmen als ältere Frau. Aber man hat in der Gemeinde und auch anderswo bisschen ehrenamtlich gemacht und da bleibt man in Kontakt und man lernt viel Neues.

Vielleicht habe ich nicht sehr lang hier gearbeitet. Ich bin froh, dass ich so verschiedene Erfahrung habe: Mit Engländern, als die Kinder in der Schule waren, mit Amerikanern, als ich da tätig war. Und ich denke, das macht mein Leben viel reicher, als wenn es nur deutsch wäre. Andere können das anders sehen, aber ich denke, für mich ist das sehr wichtig.